20 Schritte Freiheit, Teil 3 Lyrics & Tabs by Samsas Traum
20 Schritte Freiheit, Teil 3
guitar chords lyrics
Kurz darauf heulte eine Schrille Sirene auf, deren Klang mir durch Mark und Bein fuhr. Der Anstaltsdirektor kam, flankiert von zwei Wärtern und seiner Sekretärin, mit schnellen Schritten und wehendem Kittel in die Halle gelaufen. Er zeigte im Vorbeigehen auf Lazarus‘ Leiche und befahl Nero, den Körper auf der Stelle zu entsorgen, „aber passen sie darauf auf, dass ihn die anderen nicht sehen. Wischen sie danach diese Schweinerei weg, das ist ja entsetzlich! Und dann begeben sie sich wieder an ihren Arbeitsplatz, verstanden?“, keifte der Direktor, woraufhin Nero, mit Lazarus eine blutige Spur auf dem Boden hinter sich zeichnend, durch die Tür verschwand, durch welche er gekommen war. Die Gruppe um den Anstaltsleiter setzte ihren Weg fort. Kurz vor Lao-Tses Zelle sagte die Sekretärin: „Da sind sie, Herr Direktor, die beiden da“, und nickte mit dem Kopf in unsere Richtung. „Ah ja“, antwortete der Mann, blieb stehen, zupfte seinen Schnurrbart zurecht, und linste zu uns hinein. „Gehe ich recht in der Annahme, dass sie mit dem aufständigen Wüterich paktiert haben?“, fragte er uns, und tippte dabei nervös mit dem Fuß auf den Boden. - „Gehe ich recht in der Annahme, dass sie mich hier seit Ewigkeiten gegen meinen Willen gefangen halten?“, erwiderte Lao-Tse, und richtete sich langsam in seiner Zelle auf. „Wie sie wollen, wir werden uns nicht mehr mit ihnen herumschlagen“. Er blickte die Sekretärin an. „Nun, die beiden fahren noch heute mit den Insassen aus Halle D ab“, sagte der Direktor, und wedelte dabei abfällig mit der Hand hin und her, als würde er eine Fliege verscheuchen. „Meine Herren, sie sind frei. Doch vergessen sie niemals: die Freiheit ist ein Geschenk. Sie werden sich noch an meine Worte erinnern“. Lao-Tse erstarrte. Seine Furcht griff auf mich über. Noch bevor wir mit der Wimper zucken konnten, riss einer der Wärter ein pistolenähnliches Gerät hervor und schoss auf uns. Ich verspürte einen kurzen, stechenden Schmerz am Hals; in meiner Haut steckte ein stecknadelgroßes, mit einem Betäubungsmittel beschichtetes Geschoss, das mich in Sekundenbruchteilen das Bewusstsein verlieren ließ.
Als ich die Augen wieder öffnete, lehnte ich mit dem Rücken an einer Birke. Obwohl die Sonne schien, war mir sehr kalt. Ein scharfer herbstlicher Wind ließ die dünnen herabhängenden Äste des Baumes tanzen und seine Blätter rascheln; manche waren noch grün, andere waren bereits gelb, ihrem Halt entrissen wirbelten sie durch die Luft und fielen auf meinen Körper herab. Ich war von Feldern umgeben, soweit das Auge reichte, sah ich nichts anderes als flaches Land, als umgegrabene, aufgerissene, wie Wunden klaffende Erde. Ich richtete mich mühsam auf und ging ein paar Schritte. Es war ein seltsames Gefühl, mir war, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben meine Beine spüren, als würde ich wie ein Kind das Laufen lernen, jede Bewegung strengte mich ungeheuerlich an. Ich richtete den Blick nach oben: über mir erstreckte sich ein grenzenloser strahlender Himmel, dessen blauer Glanz intensiver war als alles, was ich jemals zuvor gesehen hatte. Ich drehte mich um, stolperte von der Reinheit des Blaus berauscht zu der Birke zurück und hielt mich an ihr fest. Die zarte weiße Haut des Baumes mit meinen aufgerauhten Handflächen zu berühren, erschien mir für einen Augenblick lang wie eine Sünde. In der anderen Richtung entdeckte ich unweit von mir entfernt einen Schwarm Möwen, der auf dem Feld saß. Die Tiere pickten mit ihren Schnäbeln im Boden herum. Was taten sie da? Fraßen sie etwa Mäuse? Plötzlich wurden sie von etwas aufgescheucht. Ein sonores Brummen drang an meine Ohren, das sich unbeirrbar mit dem Rauschen der Blätter vermischte und es schlussendlich übertönte. Meine Augen verfolgten die Vögel, die mit kräftigen Flügelschlägen davonflogen, und sahen eine den gesamten Horizont einnehmende Bataillon kastenförmiger, hausgroßer, schwarzer Maschinen, hinter denen sich eine bedrohliche Staubwolke auftürmte und den Himmel verdunkelte, wie Tinte, die sich in Wasser verteilt, und lethargisch schwebende Fäden und Strukturen bildet, Spinnweben gleich, die durch den leeren Raum gleiten und sich dann absetzen. Die Maschinen kamen immer näher. Mit riesigen Schaufeln schlangen sie den Erdboden in sich hinein, sie katapultierten ihn in ihre Öffnungen, zerquetschten ihn mit Walzen, zerschnitten ihn mit Messern und spien aus rostigen Rohren an ihren Rückseiten dichte Qualmwolken in die Atmosphäre, schwarze Wattebausche zermahlenen Bodens - oder war es Tinte? Übergossen sie den Himmel einfach mit Tinte? Mit roter Tinte vielleicht? Oder war es etwa Blut, das die Maschinen aus ihren Auspuffen spuckten; ein dickflüssiger fleischfarbener Brei aus Knochensplittern, Muskeln und Organen - Tod in konzentrierter Form? Mit einem mal verwandelte sich die brachliegende Erde der Felder in die unzähligen entstellten, verwesenden, geschundenen, aufgeblähten und zerrissenen Leichen namenloser Menschen und Tiere; Säuglinge, Kinder, Knaben und Mädchen, Männer, Frauen, Großmütter und Greise, allesamt nackt, egal welcher Herkunft oder Rasse, egal welcher Hautfarbe oder Spezies, die Maschinen fraßen sie auf, rissen ihre Zellen auseinander und schleuderten sie einzeln vor die Sonne! Vom Grauen überwältigt wandte ich meinen Blick zu Boden und sah, dass das Leichenmeer bis an mich heran reichte, dass die Wellen immer höher schlugen, dass ich bis zu den Knien inmitten von Körperteilen stand. Der Ekel durchströmte mich und gab mir den Impuls loszulaufen, nach wenigen unbeholfenen Schritten fiel ich hin; es war mir nicht möglich, einen Halt zu finden, meine Hände und Füße glitten von dem mit blutigem Schleim und Körpersekreten beschmierten Rümpfen, Köpfen, Armen und Beinen ab, ich rutschte immer wieder aus, bis ich mich erschöpft auf den Rücken rollte und einfach aufgab. Die alles Leben verachtenden, knirschenden Geräusche der Maschinen wurden immer lauter, die Leichen vibrierten. Ein Arm legte sich um mich - es war der Arm meiner Mutter. Mit gütiger Stimme sagte sie: „Es ist Erntezeit“
Ich schreckte aus meinem Traum auf und fand mich in der Ecke des Innenraumes eines kleinen, gepanzerten Fahrzeugs liegend wieder, eingepfercht zwischen mehr als 100 Anstaltsinsassen; ich war umringt von Füßen und Beinen, der Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit, das Dröhnen des Motors verursachte mir Kopfschmerzen, der Boden war schmutzig und feucht, in der schwülen Luft schwebte der stechende Geruch von Exkrementen und Schweiß. Ich schaffte es kaum aufzustehen, so dicht waren die angstgebadeten Körper der Gefangenen aneinander gedrängt. Niemand sprach, alle standen sie mit gesenktem Kopf dar, die Augen vor Scham verschlossen. Wenn der Wagen rasant in eine Kurve fuhr, und das tat er oft, bogen sich die Leiber der Insassen in die entgegengesetzte Richtung des Kurvenverlaufs; das gesamte Gewicht der resignierten Masse verlagerte sich auf die gegen die Wand gepressten Patienten, die wegen des Drucks vor Schmerzen aufstöhnten und zu kollabieren drohten. Die Alten und Schwachen, deren Kräfte der Belastung nicht mehr standhalten konnten, starben aufrecht stehend und leise. Man konnte in ihren Gesichtern sehen wie der Lebenswille aus ihren Körpern schwand und die Mimik erschlaffte, bevor ihre Leichen unendlich langsam Millimeter für Millimeter zwischen den Leibern der Lebenden zu Boden rutschten und von ihren Tritten begraben wurden. Am anderen Ende des Wagens begann jemand zu schreien und zu versuchen, über die Köpfe der anderen Gefangenen hinwegzuklettern; eine aussichtslose Schlacht um eine nicht erreichbare Freiheit wurde unter einem Dutzend Insassen ausgefochten; Hände griffen in Augen, Füße steckten in Mündern, Finger gruben sich in Falten, Nägel zerkratzen Haut, Körper ragten in die Luft wie untergehende Schiffe aus dem Meer. - Am Ende stand jedoch der Blick in ein vermeintlich fremdes Augenpaar, in dessen trübem und angsterfülltem Glanz sich der eigene nahende Tod widerspiegelte.